- Anarchisten in Europa: Konsequenter Individualismus
- Anarchisten in Europa: Konsequenter Individualismus»Anarchismus« ist in unserem Jahrhundert zu einem unverbindlichen Allerweltsbegriff und zugleich zu einem politischen Schimpfwort geworden. Durch das Schlagwort Anarchismus werden in der Gesellschaft vorhandene Ängste und Vorurteile mobilisiert und in politisch diskriminierender Absicht benutzt. Wer sich mit Anarchismus beschäftigt, hat daher zwischen dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand und dem Gerücht beziehungsweise den Vorurteilen über den Anarchismus zu unterscheiden. Im Griechischen bedeutete »Anarchismus« ursprünglich Führer- und Herrschaftslosigkeit. Im Mittelalter selten benutzt, findet sich die Bezeichnung in der Neuzeit in der Staatsformenlehre und meint eine politische Ordnung ohne gesetzliche Gewalt und Herrschaft. Seit der Französischen Revolution hat der Begriff einen negativen Beiklang erfahren und wurde auch gleichbedeutend für »Chaos« und »Unordnung« benutzt. Geht man jedoch vom anarchistischen Selbstverständnis aus und verbindet dieses mit sozial- und ideengeschichtlichen Erkenntnissen über den modernen Anarchismus, dann können vier Kriterien genannt werden, die ihn von anderen politischen Theorien und sozialen Bewegungen unterscheiden.Anarchisten lehnen jede Form menschlicher Organisation ab, mit deren Hilfe ideologischer, politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Zwang ausgeübt wird. Sie streben vielmehr die freiwillige Vereinigung der mündigen, emanzipierten Menschen an. Anarchisten sind konsequent anti-institutionell, insoweit nämlich Institutionen Instrumente der Herrschaftsausübung sind. Sie sind anti-staatlich, anti-bürokratisch, anti-parlamentarisch, anti-parteilich und anti-kirchlich. Vor allem im Staat sehen Anarchisten den allgegenwärtigen Moloch menschlicher Unterdrückung, sodass sie ihr Denken, Handeln und Verhalten häufig allein gegen diesen richten. Ideologien sind für sie Ausdruck bestehender und in Institutionen geronnener Herrschaftsverhältnisse und dienen zu deren Stabilisierung. Ähnlich wie im Marxismus beginnt im Anarchismus die Kritik der Gegenwart mit der Religionskritik, und sie wird auf diesem Wege zur Ideologiekritik. Anarchismus ist a-theistisch sowie a-religiös. Er ist nicht nur international, er ist a-national.Das Ziel des Anarchismus ist die herrschaftsfreie Gesellschaft, eben die »Anarchie«. In ihr tritt an die Stelle der Herrschaft von Menschen über Menschen die Verwaltung von Sachen. Diese künftige Gesellschaft ist nicht »chaotisch«, sondern nach den Prinzipien menschlicher Selbstbestimmung und des Föderalismus organisiert. Das menschliche Zusammenleben soll durch freiwillige Verabredung der Individuen untereinander, durch die freie, funktionsgerechte, räumlich überschaubare autonome Vereinigung strukturiert werden. Dadurch verbinden sich Individualismus und Kollektivismus. Die »Kommune« ist die kleinste Einheit des Wohnens, das »Syndikat« die Basis der Produktion und Dienstleistung. Schließlich ist der Anarchismus durch einen besonderen Revolutionsbegriff gekennzeichnet. Im Unterschied zu anderen - etwa sozialistischen - Revolutionstheorien ist der anarchistische Revolutionsbegriff dadurch charakterisiert, dass es keiner Zwischenstufen zwischen dem heutigen Status quo und der zukünftigen Gesellschaft, der Anarchie, bedarf. Anders als zum Beispiel im Sozialismus muss das Bürgertum nicht erst politisch und ökonomisch emanzipiert und die Arbeiterschaft zum Bewusstsein ihrer geschichtlichen Aufgabe gekommen sein, bevor die Revolution stattfindet. Vielmehr reicht der Wille zu totaler Veränderung aus. In den Worten Gustav Landauers, eines deutschen Anarchisten: »Wollen - wirklich wollen, ist dasselbe wie tun.«Die Ursprünge, Vorläufer und Ausgestaltungen des Anarchismus sind ebenso vielfältig wie die geistesgeschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er entstanden ist. Ideengeschichtlich knüpft der Anarchismus an die Philosophie der Aufklärung an. Erst in Anlehnung an naturrechtliche Vorstellungen konnte ein Gesellschaftskonzept entwickelt werden, das die menschliche Entfremdung für überwindbar hält. In der Abkehr vom Reich Gottes und vom Eingebundensein des einzelnen Menschen in feudale Strukturen wird das Individuum entdeckt. An dieser Stelle wachsen Anarchismus und Liberalismus aus der gleichen ideengeschichtlichen Wurzel. Nur treibt der Anarchismus den liberalen Individualismus bis zu seiner letzten Konsequenz: In der Anarchie soll die einzelne Persönlichkeit von allen Unterdrückungsmechanismen befreit sein und sich mit allen ihren Fähigkeiten voll entfalten können.Anarchistische Bewegungen und Autoren finden sich häufig in solchen politischen Systemen, in denen die Teilnahme des einzelnen Bürgers an politischen Entscheidungen äußerst erschwert war. Man rebellierte gegen Militär, Polizei und Bürokratie, die in den Alltag eingriffen. Zu den politischen Entstehungsbedingungen des Anarchismus gehören also autoritäre politische Regime beziehungsweise politische Unterdrückung. Schließlich fällt auf, dass Anarchismus in jenen Gesellschaften sich relativ stark entfalten konnte, in denen feudale und absolutistische Relikte bis weit in das 19. und 20. Jahrhundert fortwirkten. Dort hat die politische Befreiung des Bürgertums relativ spät stattgefunden.Historisch können verschiedene Formen des Anarchismus unterschieden werden. Am Übergang vom Feudalismus in den Kapitalismus entstanden Agrar- und Handwerkeranarchismus. Zum Agraranarchismus zählt der spanische Anarchismus des flachen Landes etwa in Andalusien im 19. Jahrhundert, der aus dem Pueblo hervorgegangen ist und die genossenschaftliche Produktionsweise erhalten wollte, wie sie sich im Feudalismus entwickelt hatte. Mit diesem vergleichbar ist eine Freiheitsbewegung ukrainischer Bauern nach dem Ersten Weltkrieg, die von Nestor Machno angeführt (und nach ihm benannt) wurde. Zum Handwerkeranarchismus ist der der Uhrmacher der Juraföderation in der Westschweiz zu zählen. Hier arbeiteten selbstständige Uhrmacher genossenschaftlich und gleichberechtigt in der Uhrenherstellung zusammen. Im Unterschied dazu kann der Syndikalismus als moderne Spielart des Anarchismus gesehen werden. Er basiert auf dem Industriebetrieb, auf Gewerkschaften und einem städtischen Umfeld. Er strebt wie der Agrar- und Handwerkeranarchismus genossenschaftliche Kooperation an. Am weitesten ist der Syndikalismus in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Katalonien während des spanischen Bürgerkrieges 1936/37 umgesetzt worden.Zu den Klassikern des Anarchismus wird Pierre Joseph Proudhon gezählt, der in seinem Denken drei zentrale Begriffe miteinander verbunden hat, nämlich Mutualismus, Föderalismus und Anarchismus. Der Mutualismus, das Prinzip der Gegenseitigkeit, sollte die wirtschaftliche Grundlage bilden: In einer Tauschbank sollten Güter gegen Güter, Dienstleistungen gegen Dienstleistungen getauscht und Kredite ohne Zinsen vergeben werden. Ziel war, den Staat dadurch aufzulösen, dass die Menschen (selbst) untereinander Verträge schlossen, sich gegenseitig und solidarisch zu helfen. Die politische Form dieser gegenseitigen Hilfe war der Föderalismus. In diesem waren Herrscher und Herrschaft aufgehoben, Anarchie war verwirklicht.Michail Bakunin hat den Anarchismus in der Welt bekannt gemacht, wurde aber auch zum Schreckens- und Zerrbild des Anarchisten. Tatsächlich war seine Rhetorik oft militant und sein Verhältnis zur Gewalt doppeldeutig. Er setzte auf die Selbsttätigkeit der Arbeitermassen, der Bauern und der Räuber - und doch schrieb er zugleich über Verschwörung, Geheimbünde und Berufsrevolutionäre. In seinen positiven Vorstellungen über die künftige anarchistische Gesellschaft war Bakunin wenig originell und schloss an Proudhons Gedanken von der freien Vereinigung aller Menschen und vom Föderalismus an.Pjotr Kropotkin vertrat eine Art kommunistischen Anarchismus. Er plädierte nicht nur für Gemeineigentum und kollektive Produktionsweisen, sondern die Produkte sollten auch entsprechend den Bedürfnissen der Menschen verteilt werden. Als naturwissenschaftlich arbeitender Geograph glaubte Kropotkin seinen Anarchismus in der Tier- und Menschenwelt wieder zu entdecken, nämlich das Grundprinzip gegenseitiger Hilfe und Kooperation innerhalb der einzelnen Tiergattungen, aber auch zwischen den Menschen in Landwirtschaft, Handwerk und Industrie.Ein mehr romantischer Anarchist war Gustav Landauer, der die neue, herrschaftsfreie Gesellschaft gewaltlos verwirklichen wollte. Er war von der jüdischen Mystik und der Meister Eckharts beeinflusst und idealisierte die mittelalterlichen Bünde und Genossenschaften. Im Unterschied zu den genannten, bei denen genossenschaftliche Zusammenarbeit der Individuen im Vordergrund steht, vertrat Max Stirner in seinen philosophischen Spekulationen einen egoistischen Individualismus. Im Mittelpunkt steht »der Einzige«, ein isoliertes, unabhängiges Individuum, ein Wesen außerhalb von Geschichte und Gesellschaft. In Stirners Formulierung: »Mir geht nichts über mich«.In der Studentenbewegung Ende der Sechziger-Jahre wurden anarchistische Autoren neu entdeckt. Sie boten die Möglichkeit zu alternativen Gesellschaftsentwürfen und sozialen Fantasien. In jüngster Zeit ist eine Verbindung von Anarchismus und Umweltschutzbewegung hergestellt worden. Zudem hat der Anarchismus angesichts von Denzentralisationstendenzen, die es in hoch industrialisierten Gesellschaften als Gegengewicht zu bestehender Zentralisation gibt, in der Organisationssoziologie erneut Beachtung gefunden. So wurde für unübersichtliche, vielfältige und in sich widersprüchliche Organisationsformen der Begriff »lose verkoppelte Fragmente« beziehungsweise »lose verkoppelte Anarchie« geprägt. In den Staaten des »real existierenden Sozialismus« dagegen wurden Anarchisten wegen ihrer scharfen Kritik an der herrschenden Politik und Gesellschaft verfolgt. Gerade Anarchisten haben immer argumentiert, dass mit der bloßen Verstaatlichung der Produktionsmittel und mit der Eroberung staatlicher Macht durch eine sich als proletarisch ausgebende, zentralistisch organisierte Partei die menschliche Befreiung nicht gewonnen werden kann. Vielmehr schafft sie neue Abhängigkeiten und neue Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen.Prof. Dr. Peter Lösche
Universal-Lexikon. 2012.